Das Soziale in der Krise
Der lesenwerte Beitrag des Paritätischen richtet den Blick auf die weitreichenden gesellschaftlichen Folgen der Corona-Krise, auch für die Sozialsysteme und fordert dazu auf, daraus zu lernen. Seit Erscheinen des Textes sind weitere Verschärfungen in Kraft getreten sind, die die Analyse noch dringlicher erscheinen lassen.
Auszuge:
"Die COVID-19-Pandemie ändert alles. Sie stellt den Sozialstaat in Deutschland vor bisher nicht gekannte und längst noch nicht absehbare Herausforderungen. Die Ärmsten waren auch diesmal diejenigen, die die Krise des Sozialen als erste zu spüren bekamen. Ein großer Teil der Hilfeinfrastruktur für Obdachlose, geflüchtete, gefährdete oder besonders einkommensarme Menschen wird aus privater Initiative, überwiegend von gemeinnützigen Organisationen der Wohlfahrtsverbände, getragen. [...]
Etwa die Hälfte der Tafeln ist inzwischen geschlossen, wegen Personalmangel aufgrund des Risikos für besonders gefährdete Engagierte, aus Rücksicht auf nicht zu gewährleistende, verschärfte Hygienebestimmungen oder wegen des Ausbleibens von Warenspenden. Während mehr und mehr Menschen Hilfe und Unterstützung suchen, verringert sich das Angebot an Hilfen dramatisch. [...]
Die COVID-19-Pandemie, so steht zu befürchten, wird die soziale Verwundbarkeit breiter Bevölkerungsgruppen deutlich machen, weit über die "üblichen Verdächtigen" der Armutsdebatte hinaus. [...]
Je länger die Krise andauern wird, desto schwerwiegender kumulieren die wachsenden Bedarfe und sinkenden Ressourcen zu sozialen Notlagen. Die soziale Not in Krisenzeiten ist dabei eine, die öffentlich kaum sichtbar ist. Die im öffentlichen Raum sichtbare Obdachlosigkeit ist nur die sprichwörtliche Spitze des Eisbergs, verglichen mit dem verborgenen Ausmaß an Mangel und Not der Haushalte, die neben dem Geldmangel nun auch die Sorge um Gesundheit in den eigenen vier Wänden hält. [...]
Die ungleiche Verteilung von Bildungschance radikalisiert sich angesichts der verschlossenen Infrastruktur von Schulen, Jugendzentren und Bibliotheken. E-Learning und Unterricht online setzen eine Hardware voraus, die Kindern und Jugendlichen in Armut schlicht nicht zur Verfügung steht. Ein anderes Problem, das sich in der Krise radikalisiert, sind Einsamkeit und soziale Isolation. Gerade ältere und beeinträchtigte Menschen sind häufig noch "offline" und entbehren deshalb selbst einfacher Möglichkeiten, sich mit anderen auszutauschen. Das nachbarschaftliche Engagement vieler Menschen dabei, anderen zu helfen und soziale Isolation zu durchbrechen, ist beeindruckend und nachahmenswert, leider aber ebenfalls sehr ungleich verteilt. [...]
In den vergangenen Tagen erleben wir die Wiederentdeckung sozialer Berufe als systemrelevante Tätigkeiten. Die häufig von schlechter Bezahlung und physisch und psychisch fordernden Arbeitsbedingungen besonders belasteten CARE-Arbeiter*innen werden zusammen mit den Beschäftigten in der medizinischen Versorgung und im Lebensmittelhandel verdientermaßen als Held*innen der Stunde mit allerhand Geschirrgeklapper von den Balkonen gefeiert. Vor diesem Hintergrund wäre zu erwarten gewesen, dass die Sicherung der medizinischen und sozialen Hilfeinfrastruktur auch politisch Priorität gehabt hätte. Das hatte sie jedoch nicht. [...]
Soziale Verteilungskämpfe treten in der Krise in den Hintergrund, aber sie verschwinden nicht. Mit steigenden Arbeitslosenzahlen und gewachsener Staatsverschuldung werden sie schon bald unter dem Ruf nach mehr Effizienz und Einsparungen erneut auf den Prüfstand gestellt werden. Auch die besonders unterstützungsbedürftigen Gruppen haben noch keinerlei Anlass, angesichts der bestehenden Mangellagen auf stärkere Unterstützung zu hoffen. In und nach der Krise werden neue Verteilungskämpfe virulent werden, in denen die Leistungs- und Gewährleistungsverantwortung des Staates neu verhandelt werden wird. Ob der Sozialstaat der Zukunft soziale Verwundbarkeit dauerhaft reduzieren oder institutionalisieren wird, ist noch lange nicht ausgemacht."
Den vollständigen Text finden Sie unter dem Link.