Essay: Die Familie wird wirtschaftskompatibel gemacht
Die Familienpolitik will die Vereinbarkeit von Beruf und Familie fördern. Klingt erst einmal gut. Doch der Politik geht es nicht um die Familien, sondern um die Wirtschaft, findet der Journalist Rainer Stadler. In seinem Artikel kritisiert er, dass die Politik versuche, die Familien den Bedingungen des Arbeitsmarktes anzupassen – mit der Folge ganztagsbetreuter Kinder und reduziertem Familienleben. Das gelte vielen als alternativlos – andere Meinungen gelten rasch als reaktionär.
"Seit mehr als einem Jahrzehnt herrscht in Deutschland parteiübergreifend Konsens, was moderne, familienfreundliche Politik bedeutet: den Ausbau von Kinderkrippen, Kindergärten und Schulen, sodass die Kinder möglichst den ganzen Tag betreut werden und die Eltern den ganzen Tag arbeiten können. Manche Politiker fordern inzwischen, die Einrichtungen auch nachts zu öffnen, damit Eltern in Nachtschichten arbeiten können. Die Begründung lautet, ähnlich wie bei der Einführung von Hartz IV: Sozial ist alles, was den Menschen hilft, sich ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen.
Diese Denkweise hat sich bei den Familienpolitikern aller im Bundestag vertretenen Parteien durchgesetzt. Niemand kommt mehr auf die Idee zu fragen: Ist es wirklich familienfreundlich, eine Infrastruktur zu schaffen, deren Zweck vor allem darin besteht, die Familie den ganzen Tag voneinander zu trennen? Ist es wirklich sozial, Betreuungseinrichtungen 24 Stunden am Tag zu öffnen, damit alleinerziehende Mütter spätabends an der Supermarktkasse sitzen oder ihre Nachtschicht als Krankenschwester ableisten können? [...]
Die Familienpolitik muss endlich wieder zu ihrer ureigensten Aufgabe zurückkehren: die Vertretung der Interessen von Familien, und zwar aller Familienmitglieder. Das bedeutet insbesondere den Schutz des Familienlebens vor den Begehrlichkeiten einer auf Effizienz getrimmten, durchökonomisierten Gesellschaft. Das moderne Märchen der Vereinbarkeit von Beruf und Familie, dank flächendeckender Ganztagsbetreuung könnten sich Eltern im Berufsleben verwirklichen und gleichzeitig ein erfülltes Familienleben genießen, mag bei einigen Erwachsenen verfangen. Aber sicher nicht bei der kommenden, ganztagsbetreuten Generation – einer Generation, die in früher Kindheit die Rationierung von Elternliebe und Geborgenheit ertragen musste, und später den Verlust ihrer Freiheit."